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Mohnblume im Kornfeld Hochsensibilität

Hochsensibilität
und das Leben der Anderen
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Gedanken zum Thema Grenze

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In dem Moment, wo der Same die Eizelle befruchtet, ist die Welt intakt und vollkommen.
Nun beginnt sich das Leben zu entfalten...
Wenn wir als Babys in unser Erdenleben geboren werden, kommen wir aus der totalen Verbindung, und aus dem
Zustand des Nicht-Getrennt Seins, den wir im Mutterleib erfahren haben.
Durch die Nabelschnur waren wir in Verbindung mit unserer Mutter, quasi wie ein Organismus. Wir haben eine andauernde körperliche Berührung erfahren. Eine Grenze gab es nicht.
Wenn die Mutter in der Schwangerschaft einem hohen Grad an Stress ausgesetzt war, oder Komplikationen auftraten, so hat der damit einhergehende erhöhte Pegel an Cortisol also auch genauso unseren Organismus geflutet, wie den der Mutter.

Diese quasi nicht vorhandene Grenze nennt man auch Konfluenz.
Diesen Zustand können auch Erwachsene erleben, immer dann, wenn die Grenzen der einzelnen Ichs verwischen oder auch verschmelzen, zum Beispiel in der Intimität zwischen Liebenden, beim Verweilen in der Natur oder beim gemeinsamen Musizieren, wenn die Stimmen/Instrumente zu einem größeren Ganzen verwoben werden.
Es ist ganz wunderbar, in seinem Leben Erfahrungen dieser Art machen zu können, um Tiefe und Verbundenheit zu erleben. Ich gehe auch davon aus, dass die Sehnsucht danach in uns allen angelegt ist.

Wir Menschen ersehnen diese Rückverbindung mit dem Lebendigen, mit dem großen Ganzen.
 

Dennoch bedeutet ein Reinwachsen in dieses Erdenleben eben auch, dass wir ein eigenes klares Ich entwickeln, dass wir uns abgrenzen von dem, was wir nicht sind und nicht sein wollen. Und dass wir unseren eigenen Weg finden.
Ich-Werdung bedeutet lebendige Grenzen aufzubauen, beständig zu aktualisieren und unseren Raum zu nutzen.
 

Was aber hat all das mit dem Thema Hochsensibilität zu tun?

Bei meinem schon lange andauernden persönlichen Erforschen dieses Themas, komme ich immer mehr dahinter, dass Hochsensibilität sehr viel mit Konfluenz zu tun hat.
Wir Menschen mit der Gabe der Hochsensibilität haben oft ein Thema damit, uns von dem, was uns im Umfeld umgibt, von dem Leben der Anderen, abzugrenzen.
Ein Zuviel an Wahrnehmungen und Anforderungen schwirrt in unserem Raum. Beständig werden Stimmungen von anderen abgecheckt, und mögliche Gefahrenquellen im Auge behalten.
Geräusche, Gerüche, Bewegungen, aber auch die Fülle an verfügbaren Informationen, das alles flutet uns manchmal geradezu. Am Ende des Tages sind wir oft erschöpft, manchmal auch wie gefühllos von sehr vielen Reizen, die unser Organismus verarbeiten muss.

Wir Hochsensible neigen oft dazu, das, was wir im Außen erleben, ungefiltert in uns reinzunehmen. Wir reagieren häufig unmittelbar auf die Reize, die uns umgeben: zum Beispiel mit starken Gefühlen oder kreisenden Gedanken.
Man nennt dies auch
Introjektion. Introjektion bedeutet, dass wir das, was ursprünglich im Außen war, also die Meinungen, Werte und Verhaltensweisen anderer Menschen, ungeprüft, weil unbewusst in uns einlassen, sodass sie in uns Raum einnehmen können.
Introjektion hat neben dieser problematischen Wirkung auch eine ganz wichtige Funktion. So lernen wir beispielsweise als, Kinder, uns jedes Mal umzublicken, bevor wir eine Straße überqueren.
Diese Verhaltensweise übernehmen wir als Kind ungeprüft von unseren Eltern oder Bezugspersonen, und machen sie zu unserer eigenen.

 

Auch die gegensätzliche Variante, also das Projizieren der eigenen Gefühle und Gedanken auf einen anderen Menschen ist bei vielen Hochsensiblen ein Thema.
Tatsächlich gibt es viele HSP, die einen wesentlichen Teil ihrer Identität darauf begründen, dass sie besonders feinfühlig und empathisch sind, und sich in die andere Person hineindenken oder hineinfühlen können.
Manchmal mag das stimmen, doch ist es der Beziehung sehr abträglich, wenn wir keinen
Realitätscheck mehr machen, und in keinen wirklichen Austausch gehen.
Denn können wir wirklich sicher sein, dass das, was wir da empfinden einer lebendigen Intuition entspringt, oder projizieren wir nicht einfach unsere eigenen Ideen auf Andere, und lesen dann dort das ab, was unser eigenes Thema ist? In diesem Falle verpassen wir es, neugierig auf das Leben und die Anderen zu bleiben.

Und Neugierde ist eine Form des lebendig Seins!

Ob Konfluenz, Introjektion oder Projektion, immer haben wir es hier mit dem Thema Grenze zu tun. Mal ist die Grenze praktisch nicht vorhanden (Konfluenz), dann ist zu viel vom Außen in unserem Raum drin, also unsere Grenze nach außen verläuft zu weit Innen (Introjektion) oder wir projizieren unsere eigenen Themen in den Raum der anderen Person, sind also im Grunde grenzübergriffig.

Wie aber können wir gesunde und lebendige Grenzen setzen lernen und davon in der Art profitieren, dass wir uns ausgeglichen in unserem eigenen Raum spüren können und nicht von äußeren Einflüssen überflutet fühlen?

Zunächst möchte ich dazu anmerken, dass Veränderung im Nervensystem mit Zeit und immer wieder geduldiger Ausrichtung geschieht, in kleinen Schritten, und manchmal auch in großen Sprüngen.

Eine gesunde Grenze aufbauen, bedeutet im Grunde, den eigenen Raum einnehmen.
 
Eine wunderbare Praxis für den Alltag ist es, immer wieder wesentliche
Kernressourcen zu stärken.
 

Das ist zum Beispiel ein lebendiger Atemfluss, dem ich immer wieder meine Aufmerksamkeit schenke. Ich atme ein. Ich atme aus. Und ich nehme wahr, wie der Atem mich ausdehnt beim Einatmen, wie ich dadurch mehr Raum einnehme, und wie ich mich auf natürliche Weise zusammenziehe beim Ausatmen.

Das ist der
Kontakt zum Boden, der mich trägt. Zur Erde, auf der wir leben.
Kann ich wahrnehmen, wie meine Füße auf dem Boden stehen? Kann ich meine Zehen bewegen, und die Lebendigkeit in den Füßen spüren? Und wie ist es, mir klarzumachen, dass die Erde mich liebevoll trägt, dass ich gar nicht alleine bin, dass ich mich diesem Ur-Boden anvertrauen kann? Was macht diese Wahrnehmung mit meinem Muskeltonus? Vielleicht kann ich etwas Anspannung abgeben.

 

Das ist meine wunderbare Wirbelsäule, die Wirbel auf Wirbel mühelos übereinander geschichtet ist und mich aufrichtet. Kann ich in Würde meine Wirbelsäule und diese Aufrichtung fühlen und genießen? Was geschieht nun mit meinem Atem?



Ich halte es für sehr empfehlenswert, das Zuviel aus dem Außen, das wir in uns hineingenommen haben, immer wieder in unserer Vorstellung aus dem eigenen Raum zu „schieben“.
Es kann sehr hilfreich sein, sich selbst in einem ruhigen Moment, durch eine Geste zu verdeutlichen, dass wir unseren eigenen Raum haben, und ihn einnehmen dürfen.
Oft sind wir innerlich noch mit schon vergangenen Eindrücken und Reizen beschäftigt, denken darüber nach oder erleben intensive und erschöpfende Gefühlszustände.
Hier mache dir kurz bewusst, dass du das, was gerade zu viel ist, sinnbildlich mit einer realen Geste, zum Beispiel die Handflächen nach außen gedreht, aus deinem Raum hinausschieben kannst.
Das können innere Filme sein, Abbilder von Menschen, das können auch Personen sein, die du eigentlich liebst.
Denn sie sind in dem Moment ja Eindrücke in deinem Kopf, also von dir selbst erschaffen.

Es ist ein liebevoller Akt, seinen eigenen Raum einzunehmen, auch den Anderen gegenüber!
Diese Geste, für dich selbst ausgeführt, kann helfen, Beziehungen zu klären.

 

Ich bin außerdem davon überzeugt, dass es ein wunderbarer Weg, im Umgang mit Grenzüberflutung, ist, bewusst die Gegenrichtung einzuschlagen, und dich selbst in die Welt fluten zu lassen. Wie wäre es, deinen eigenen Herzens Raum immer wieder mit Weite und Liebe anzufüllen, zu stärken und nach außen auszudehnen?
Dadurch weitest du deine eigenen Grenzen, du machst dich groß und verschenkst dich.

Hierzu frage dich: Wobei tankst du frische, neue Energie, wann kannst du tiefer atmen?
Vielleicht ist es in der Natur, im eigenen Garten, im Wald oder am Meer, vielleicht beim Lauschen von Musik, vielleicht beim kreativen Ausdruck in der Kunst.
Lasse zu, dass dein Herz-Raum sich hier mit dieser Qualität von Weite und Liebe anfüllen darf, und öffne dich in die Welt hinein. In dem Moment, wo du das tust, ist es praktisch unmöglich, dass du von Einflüssen und dem „Zuviel“ aus dem Leben der Anderen geflutet wirst.

Im Wald kannst du tiefer atmen
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